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Endemische Nachnamen

Ein Phänomen, das mich interessiert, sind Nachnamen, die nur in eng begrenzten Gebieten vorkommen. Ich selbst habe einen Nachnamen, der zu den 100 häufigsten in der Bundesrepublik gehört und dementsprechend keine kleinräumige regionale Verteilung kennt (immerhin praktisch, weil er so gut wie nie falsch verstanden oder geschrieben wird). Besonders interessant sind natürlich endemische Nachnamen aus Regionen, zu denen man einen wie auch immer gearteten Bezug hat – bei mir unter anderem die Vorderpfalz, Rheinhessen und der Niederrhein. Gerade heute fiel mir (warum auch immer) der Name einer lang pensionierten Kassiererin in einem Supermarkt bei meinen Eltern um die Ecke ein: Hinderkopf – oder wie man auf Meenzerisch sagt: [ˈhɪnækɔp]. Und tatsächlich: Der Name kommt, wie die Karte* zeigt, tatsächlich fast nur in Rheinhessen vor:

Schreibweisen wie ›Hinterkopf‹ oder ›Hinnerkopf‹ sind dagegen in völlig anderen Regionen verbreitet. Wenig überraschend ist die extrem begrenzte Verteilung bei einem Nachnamen, dem ich vor ein paar Jahren zum ersten und einzigen Mal begegnet bin: Hexemer. Er kommt, wie man auf der Karte erkennen kann, praktisch nur im Landkreis Mainz-Bingen vor:

Wenig überraschend ist das deswegen, weil es sich bei ›Hexem‹ um den mundartlichen Name des Mainzer Vororts (bzw. des bis 1969 selbstständigen Dorfes) Hechtsheim handelt. Ein Hechtsheimer ist demnach im Dialekt ein ›Hexemer‹. Ein anderer Nachname, dessen Endemizität mir ebenfalls erst in den letzten Tagen aufgefallen ist, ist Tebartz. Der Name scheint, wie auch der (Noch?-)Bischof von Limburg, vom nördlichen Niederrhein zu kommen, genauer gesagt aus dem Kreis Kleve; nirgendwo sonst ist, wie die Karte zeigt, die relative Häufigkeit höher:

In den angrenzenden Landkreisen Viersen und Wesel gibt es auch einige Tebartze, aber sonst sind nur einzelne Personen über die Republik verstreut.

* Alle Karten wurden mit Geogen erstellt und stehen unter der Lizenz CC BY-NC-SA 2.0.

Auf ein Wort (11): Birjuljowo

Birjuljowo (Бирюлёво) russ. [bʲɪrjʊˈlʲɵ̞və]

Übrigens: ›Birjulewo‹ – wie die Süddeutsche schreibt – ist eine schlechte Transkription, weil sie die russische Aussprache nur sehr ungenau wiedergibt. ›Birjulëvo‹ ist als wissenschaftliche Transliteration möglich, aber für den Einsatz in der allgemeinen Presse ungeeignet.

Ritzenblitzer. Oder: Die internationale Analrinne.

Ich habe jüngst festgestellt, dass sich die Bezeichnungen für die beim Vornüberbeugen durch tief sitzende Hosen sichtbare Analrinne (Crena ani – besser bekannt als Gesäßspalte, Arschritze oder dergleichen) in den Sprachen Europas deutlich unterscheiden. Vor allem scheint nicht jede Sprache dieselben Berufe (bzw. überhaupt einen Beruf) damit zu assoziieren. Am allgemeinsten ist das Deutsche, wo man umgangssprachlich von einem Handwerkerdekolleté sprechen kann. Alternativ wird aber auch vom Maurerdekolleté (das die Deutsche Welle mal als Wort der Woche würdigte) oder vom Klempnerdekolleté geredet. Letzteres ist, so vermute ich, durch das Englische inspiriert, wo plumber’s crack bzw. plumber butt Begriffe für dieses Phänomen sind. Vor allem in Großbritannien sind auch builder’s bum und builder’s cleavage gängig. Der üblichste Begriff im Niederländischen ist bouwvakkersdecolleté, zu dem es übrigens auch als deutsche Entsprechung das Bauarbeiterdekolleté gibt. Das Niederländische hat – neben bildecolleté (Hinterndekolleté) als einer der wenigen Bezeichnungen, die ohne Nennung eines Berufs auskommen – noch das stratenmakersdecolleté aufzuweisen. Das Portugiesische bietet einen offenbar vor allem in Brasilien gebräuchlichen Begriff für die entblößte Ritze, und zwar cofrinho – wörtlich übersetzt: Sparschwein (das wiederum an den amerikanischen coin slot denken lässt). Die Formulierung pagar cofrinho (ins Sparschwein einbezahlen) verwendet man, wenn jemand dieses modischen Verbrechens schuldig wurde. Noch nie vorgekommen ist dies offenbar in Frankreich; einen französischen Begriff habe ich jedenfalls nicht finden können.

Update (22. 1. 2016):

Im vergangenen Jahr kam Adrien Hervé-Pellissier, ein Unternehmer aus dem französischen Rennes, in die Presse als Erfinder spezieller Unterwäsche, die das Entblößen der Analrinne bei vornübergebeugter Haltung verhindern soll. In der Berichterstattung über das neue Produkt tauchte dann auch ein französischer Begriff dafür auf: sourire du plombier (Lächeln des Klempners) – so auch der Name der Unterwäschemarke. Andernorts wurde die Variante sourire du maçon (Lächeln des Maurers) bzw. schlicht raie du maçon (Maurerritze) genannt. In der Zwischenzeit wurde mir noch ein weiterer französischer Begriff dafür zugetragen: parking de vélo (sinngemäß: Fahrradständer). Merci, Nathalie!

Grenzüberschreitendes Viertel

Ein Viertel ist auf Niederländisch ein kwart, ein Vierteljahr ein kwartaal usw. Standardsprachlich gibt es zu Letzterem kaum Alternativen, abgesehen vom formellen trimester. Heute entdeckte ich allerdings, dass der Dikke van Dale ein Synonym für kwartaal auflistet, das für Deutsche vertraut klingt: verreljaar, versehen mit der Einschränkung ›gewestelijk‹ (regionaler Sprachgebrauch). Wenn man weiß, dass ein Viertel im Niederländisch nicht nur als vierde, sondern auch als vierendeel bezeichnet wird, ist man der Etymologie des Viertels bereits auf der Spur. Im Althochdeutschen, also bis ins 11. Jahrhundert, lautete das Wort noch fiorteil, woraus im Mitteldeutschen vierteil geworden ist. Noch 1545 übersetzt Luther Vers 8 des 9. Kapitels im 1. Buch Samuel (1 Sam 9,8) wie folgt:

Der Knabe antwortet Saul wider / vnd sprach / Sihe / ich hab ein vierteil eins silbern Sekels bey mir / den wollen wir dem man Gottes geben / das er vns vnsern weg sage.

In der revidierten Luther-Übersetzung von 1984 ist daraus geworden:

Der Knecht antwortete Saul abermals und sprach: Siehe, ich hab einen Viertel-Silbertaler bei mir; den wollen wir dem Mann Gottes geben, dass er uns unsern Weg sage.

Im Niederländischen ist die phonetische Entwicklung etwas anders abgelaufen – ungefähr in den Bahnen, die auch zu veertig statt vierzig geführt haben. Interessant ist, dass das Wort verreljaar vor rund zweihundert Jahren auch noch außerhalb des Dialektalen gebräuchlich gewesen zu sein scheint; Belegstellen aus den Werken Jacob van Lenneps oder Herman Heijermans’ zeigen dies. Inzwischen scheint sich die Verwendung des Wortes jedoch auf (vor allem nah an der deutschen Grenze gesprochene) Mundarten zu beschränken: Im Groninger Dialekt zum Beispiel kommen die Begriffe vörrel (Viertel), vörreljoar (Vierteljahr) und vörreln (vierteln) noch regelmäßig vor.

Frankreich in Groningen

Unlängst begegnete ich einem Gedicht des Groninger Dichters Peter Visser, der im Dialekt über sein ›aldereerste wichtje‹ – sein allererstes Mädchen – schreibt. Das Gedicht heißt ›Woar vien ik die‹ (und wurde auch von Siemen Visser vertont); seine sechste und vorletzte Strophe lautet.

Mien leutje wicht, ik blief die toerloos zuiken
of wait ik ook: krieg die ja nait weerom
Wat mout ik aans? Mien God! t Blift mie muiten
dat ik die nooit, woaraarms ook, tegenkom

Drei Wörter habe ich hierdurch gelernt: erstens woaraarms, was man, wie man sich schon denken kann, so viel wie ›irgendwo; wo auch immer‹ bedeutet; zweitens muiten, was nichts mit dem gleichlautenden standardniederländischen Wort für ›meutern‹ zu tun hat, sondern ›leidtun, reuen‹ bedeutet (die Herkunft ist mir leider unbekannt); drittens ›toerloos‹. Das ist das interessanteste der drei Wörter, wie ich finde. Ich war nicht mal sicher, ob es ein exklusives Dialektwort ist, aber dem ist wohl so. Im aktuellen Van Dale hat es jedenfalls keine Spuren hinterlassen. Entgegen meiner Vermutung, dass es so was wie ›ruhelos‹ heißt, bedeutet es ›immer, unaufhaltsam‹. Und woher kommt’s? Aus dem Französischen, von toujours, wie mir das Woordenboek der Nederlandsche Taal verrät. Andere Dialekte haben das Wort zu toeresoer und dergleichen verballhornt, aber die Groninger Form toereloers bzw. toerloos entfernt sich in dieser Hinsicht am weitesten vom Ursprung. Vielleicht hat es mit dem weiten Weg zu tun, den das Wort ab der französischen Grenze zurücklegen musste. Weniger überraschend ist, dass toujours auch in an Frankreich grenzenden deutschen Regionen Fuß gefasst hat, und zwar in Formen, die im Wesentlichen durch Akzentverschiebung auf die erste Silbe vom Französischen abweichen (vgl. die Einträge sub voce ›tuschur‹ im Pfälzischen und im Rheinischen Wörterbuch).

Apfel & Ei

Ich stellte neulich mit Erstaunen fest, dass der DUDEN nur einzige Form der Redewendung führt, die ich als ›für ’n Appel und ’n Ei‹ wiedergegeben hätte, und zwar ›für einen Apfel und ein Ei‹. Für mich klang das eher artifiziell und steif, weshalb ich mich fragte: Ist das wirklich die gängigere Form? Abgelenkt wurde ich von der Frage, woher die Redewendung eigentlich stammt – und im Grunde verrät das die von mir präferierte Form bereits. Sie muss in jedem Fall nördlich der Speyerer Linie entstanden sein, wo man im Dialekt ›Appel‹ sagt, während es südlich der Isoglosse ›Apfel‹ heißt. Während ich bei einer oberflächlichen Onlinerecherche früheste deutsche Belege aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden habe, scheint die Redensart in den Niederlanden bereits ein Jahrhundert früher in Verwendung gewesen zu sein. Allerdings war die Reihenfolge der Elemente hier anfangs anders – also erst das Ei, dann der Apfel. Über niederdeutsche Dialekte dürfte die Verbindung ins Standarddeutsche gewandert sein. Bei Google Books findet sich beispielsweise eine Grammatik der Mundart von Mülheim a. d. Ruhr von 1898, in der neben dieser noch andere stark ans Niederländische erinnernde Wendungen zu finden sind. Zurück zur Häufigkeit: Verschiedene Quellen liefern hierbei unterschiedliche Daten. Sucht man ganz einfach nach den entsprechenden Formen bei Google, macht die Apfel-Form rund 44 Prozent der Ergebnisse aus. Im Ngram Viewer von Google Books macht die Analyse erst ab frühestens 1975 Sinn, da in den vorherigen Jahren meist nur ein Treffer für eine der beiden Formen zu finden ist. Extrem hoch ist die Trefferzahl auch in den Jahren danach teilweise nicht. Berücksichtigt man die Jahre von 1975 bis 2008, kommt die Apfel-Form auf einen Anteil von gut 60 Prozent. 1989 ist das letzte Jahr, in dem eine der Formen ausschließlich vorkam. Zählt man nur die Werte aus den Folgejahren, reduziert sich der Apfel-Anteil leicht auf 55 Prozent. Im Deutschen Referenzkorpus/Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache macht die Apfel-Form dagegen bloß knapp 27 Prozent aus, wobei dieses Ergebnis primär auf Quellen aus Deutschland beruht. In Österreich werden beide Formen etwa gleich häufig verwendet; in der Schweiz kommt die Appel-Form, bei wiederum niedrigen Trefferzahlen, gar nicht vor. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls sagen, dass die Appel-Form in den betrachteten Quellensammlungen keine extreme Seltenheit darstellt oder teilweise sogar die Mehrheit der Belege ausmacht. Es wäre nicht falsch, diese Form in ein (mehr oder weniger) deskriptives Wörterbuch des Deutschen aufzunehmen.