Der Vater und die Freundin:
Definitartikel in possessiver Verwendung

Wenn man im Deutschen auf etwas Definites verweisen will, hat man die Wahl zwischen verschiedenen Artikelwörtern. Man kann den Definitartikel (auch: bestimmter Artikel) wählen: ›der Baum‹. Demonstrativartikel werden ebenfalls üblicherweise als definit aufgefasst: ›Dieser Baum‹ und ›jener Baum‹ sind zwei bestimmte Bäume. Das Gleiche gilt für Possessivartikel: ›Mein Baum‹ ist nicht irgendein Baum. Diese Artikelwörter sind aufgrund ihrer Bedeutung meist nicht gegeneinander austauschbar – aber manchmal anscheinend doch. Ich bin vor Kurzem auf eine Konstruktion gestoßen, in der einige Sprecherinnen und Sprecher Possessivartikel durch Definitartikel ersetzen. Gelesen habe ich im Techniktagebuch (für das ich selbst auch schreibe) den folgenden Satz, der am Anfang eines Textes steht:

Wenn wir mit einem Mietwagen in fremden Gegenden unterwegs sind, haben wir – der Mann und ich – immer unser eigenes Navigationsgerät […] dabei.

›Der Mann‹ ist in diesem Text der erste Verweis auf eine Person, bei der es sich um den Ehemann der Autorin zu handeln scheint. Das klingt ungewöhnlich in meinen Ohren. Wenn ich ›der Mann‹ lese, erwarte ich, dass es um eine Person geht, die bereits in den Text eingeführt wurde (›Ich sah einen Mann mit einem grauen Schlapphut. Der Mann …‹), oder dass das definite Nomen im Satz selbst näher bestimmt wird, zum Beispiel in Form einer eingebetteten Possessivphrase (›der Mann meines Chefs‹) bzw. eines erklärenden Nebensatzes (›der Mann, der hier auf der Ecke wohnt‹). Das alles ist in dem Satz aus dem Techniktagebuch nicht der Fall. ›Der Mann‹ wird weder näher bestimmt noch wurde er bereits vorgestellt. Ich hätte an dieser Stelle ›mein Mann‹ geschrieben, also einen possessiven Artikel verwendet – aber ich glaube nicht, dass die Autorin des Textes einen Fehler gemacht hat. Zum einen geht es in dem zitierten Text noch ein paar Mal um ihren Ehemann, der in allen Fällen mit ›der Mann‹ bezeichnet wird (wo ich jeweils an ›mein Mann‹ festhalten würde). Diese Konstruktion wird von ihr also systematisch verwendet. Zum anderen stößt man beim Blättern im Techniktagebuch, das ich hier als kleines, bequem durchsuchbares Korpus verwenden möchte, auf weitere Belege desselben Typs:

  • 8. Januar 2015: »Neulich empfahl mir die Frau mit dem Kommentar ›müsste dir gefallen‹ die Serie The Bletchley Circle.«
  • 16. Januar 2015: »Zu seinem 74. Geburtstag bekommt der Vater von der Mutter eine neue Kamera […].«
  • 1. April 2015: »Der Freund und ich wohnen an unterschiedlichen Orten und haben eine Serie entdeckt.«
  • 3. Juni 2015: »Für einen Kurztrip geht es mit der Freundin im Fernbus in die niederländische Hauptstadt Amsterdam.«
  • 2. September 2015: »Vielleicht kann der Mann Farscape so ja doch zu Hause fertig schauen.«
  • 7. September 2015: »Dem Vater ist im Laufe des letzten Jahres das Interesse am Organisatorischen abhandengekommen.«
  • 9. Oktober 2015: »Die Frau ist einverstanden.«
  • 24. Oktober 2015: »Die Mutter macht sich Sorgen, wenn wir mit dem Auto unterwegs sind. Deshalb schlage ich dem Bruder vor, die App Glympse zu installieren.«

Geografisch scheint diese Konstruktion auf keinen eng umgrenzten Raum beschränkt zu sein. Die Belege aus dem Techniktagebuch kommen von Personen, die aus allen Ecken des deutschen Sprachgebiets stammen: aus der Schweiz etwa, aus Niederbayern, Berlin, Nordbaden oder vom Niederrhein. Auch Marcel van Roosmalen, ein Journalist aus Arnhem (Gelderland), schreibt in seinen niederländischen Kolumnen oft über ›de vriendin‹ (die Freundin). Seine Mutter, die in seinen Texten auch vorkommt, ist allerdings ›mijn moeder‹ (meine Mutter) statt ›de moeder‹. Nur aus Österreich habe ich keine Belege gefunden, aber das mag Zufall sein. Gehen wir also mal davon aus, dass Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen von überall so was sagen. Auch zeitlich kann ich die Konstruktion kaum einordnen: Forschungsliteratur dazu ist mir nicht bekannt. Zudem lässt sich nach dieser spezifischen Bedeutung definiter Nominalphrasen in Korpora nicht automatisiert suchen. Mir persönlich ist die Wendung vor ein paar Monaten zum ersten Mal aufgefallen, aber aufgrund ihrer einfachen Struktur kann sie kaum neu sein. Nur warum habe ich sie dann nie zuvor bemerkt? Ich erinnere nur vage, dass ich mich einmal als Kind darüber gewundert habe, dass meine Cousins eine Tante einfach nur ›die Tante‹ nannten anstatt auch noch ihren Vornamen zu nennen (obwohl sie im Kontext die einzige Tante war).

Wenn es sich schon nicht um ein regionales oder neues Phänomen handelt, kann man zumindest nach der Bedeutung fragen: Was unterscheidet die Verwendung des Definitartikels von der des Possessivartikels bzw. des Nullartikels? Letzterer ist nicht in allen Fällen möglich, sondern nur dann, wenn der Gattungsname gleichzeitig als Anrede verwendet wird: Bei ›(Groß-)Vater‹ und ›(Groß-)Mutter‹ geht das, auch wenn diese Formen im Deutschen altmodisch sind; bei ›Mann‹, ›Schwester‹ oder ›Freundin‹ ist es gar nicht üblich. In allen Fällen sind die Formulierungen mit Possessivartikel stilistisch unmarkiert: ›Mein Vater‹, ›meine Schwester‹ oder ›mein Mann‹ kann ich mir in geschriebener wie gesprochener Sprache von informellen bis zu formellsten Registern vorstellen. Die Variante mit Nullartikel, sofern möglich, ist informeller, scheint sie doch die direkte Anrede zu zitieren: ›Vater, kannst du mir helfen?‹ ist quasi die Vorstufe zu ›Vater kann mir helfen‹. Auch verwendet man Nullartikel häufig im innerfamiliären Gespräch: ›Frag Vater, ob Großmutter da ist‹ (bzw. inzwischen wohl eher ›Frag Papa, ob Oma da ist‹). Das Kindliche der Kontexte, in denen der Nullartikel vorkommt, scheint auch in der Verwendung außerhalb dieser Sphäre durchzuklingen. In Gegenden, wo Vornamen ein definiter Artikel vorangeht (›Frag den Jan, ob die Petra da ist‹), können definite Artikel auch vor familiären Anredeformen erscheinen: ›Frag den Vater, ob die Großmutter da ist‹. Vielleicht liegt hier die Quelle der Konstruktion, die später auf die Bezeichnungen anderer Personen ausgeweitet wurde – oder auch nicht.

›Der Vater‹ würde ich, als Nicht-Nutzer der Konstruktion, von der Informalität her zwischen den beiden anderen Optionen einordnen (dann, wenn überhaupt drei möglich sind) – aber näher am Null- als am Definitartikel. ›Der Vater‹ und ›der Mann‹ ist meines Erachtens primär in der gesprochenen Sprache zu Hause, und zwar am ehesten in informellen Gesprächen, in denen allen Beteiligten klar ist, wer gemeint ist. Ich kann mir jedenfalls schwer vorstellen, dass Angela Merkel bei einem Empfang zu jemandem, den sie nicht näher kennt, sagen würde, über dieses Thema habe sie neulich mit ›dem Mann‹ geredet. Hier wäre nur ›meinem Mann‹ zu erwarten. Den Grund dafür kann man mit etwas gutem Willen in den Konversationsmaximen von Paul Grice – einer Beschreibung von Interaktionsprinzipien zwischen Kommunikationsteilnehmern – suchen, insbesondere in der Maxime der Quantität, die man für den aktuellen Zweck wie folgt formulieren könnte: Gib mir so viele Informationen, dass ich weiß, was du meinst, aber nicht nutzloserweise noch mehr Informationen, die ich gar nicht brauche, um dich zu verstehen. Der Possessivartikel ist informativer als der Definitartikel: Beide beziehen sich auf spezifische Entitäten, aber der Possessivartikel verrät zusätzlich etwas zu den ›Eigentumsverhältnissen‹. Wenn man mit jemandem redet, der vielleicht nicht einmal weiß, ob und, wenn ja, mit wem man verheiratet ist, sollte man den informativen Possessivartikel wählen, um dem Gesprächpartner klarzumachen, dass ›der Mann‹, um den es geht, der eigene, angetraute ist. Spricht man dagegen mit jemandem, dem klar ist, dass ›der Mann‹ niemand anders sein kann als der Ehemann des Sprechers oder der Sprecherin, wäre es ein unnötiger Informationsaufwand, noch mal dazuzusagen, dass es um eben diesen eigenen Mann geht (und nicht um irgendeinen anderen). Verwenden könnte man diese Form gegenüber Personen, die einem nahe genug stehen, um den Definitartikel direkt richtig zu deuten, aber auch nicht so nah, dass man unkommentiert den Vornamen desjenigen verwenden könnte.

Was leistet die Verwendung des Definitartikels außerhalb von Kontexten, in denen sowieso klar ist, wer ›der Mann‹ ist? Aus meiner Sicht eine Informalisierung des Textes sowie die Erzeugung von Nähe. Ich werde als Leser, und sei’s nur für die Dauer einer Anekdote, in den Kreis aufgenommen, in dem man sich den – kommunikativ gesehen – übertriebenen Aufwand des Possessivartikels sparen kann, weil auf der Hand liegt ist, wer ›der Mann‹ ist (auch wenn ich, als Leser des Textes, diesen Mann noch nie gesehen habe oder selbst nicht mal von seiner Existenz wusste). Dass mir diese Konstruktion jüngst zum ersten Mal aufgefallen ist, könnte nun einerseits tatsächlich dafür sprechen, dass ich vorher nicht gut aufgepasst habe – oder andererseits dafür, dass meine stilistische Einordnung der Formen mit Possessivartikel doch nicht ganz richtig ist. Kann es nicht sein, dass Formen wie ›mein Mann‹ zunehmend als formell oder schriftsprachlich – und eben nicht mehr als stilistisch unmarkiert – aufgefasst werden? Will man diese Konnotation vermeiden, hat man nicht viele Möglichkeiten: In einem Text, der sich an ein allgemeines Publikum richtet (und in dem es letztlich wurscht ist, ob man das Beschriebene mit dem eigenen Mann oder wem auch immer erlebt hat), kommen der Nullartikel und der Vorname der Person nicht in Frage. Die Variante mit Definitartikel wäre dann das Ergebnis der Suche nach einer informellen, aber nicht allzu vertraulichen Alternative zum (formellen) Possessivartikel. Oder auch nicht.

4 Gedanken zu „Der Vater und die Freundin:
Definitartikel in possessiver Verwendung

  1. Gerhard Großmann

    Auf mich wirkt diese Verwendung des bestimmten Artikels so, als wolle man sich als Erzählender ein Stück weit von dem Bezeichneten distanzieren und sie oder ihn als eigene, handelnde und von einem selbst unabhängige Figur darstellen. So, als würde man sich mit dem Zuhörer eng verbünden und über einen Dritten reden, der einem im Augenblick weniger nah steht: „Ich wäre ja für die Türkei, aber die Freundin meint halt, Spanien wäre schöner.“ Man selbst zieht sich in die Beobachterrolle zurück und erzählt, was die Mutter, der Lebensgefährte oder die Tochter machen – ohne selbst an dieser Handlung irgendwie beteiligt zu sein.

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  2. Vilinthril

    Mir fällt in dem Kontext noch die im Englischen recht weit verbreitete Formulierung „the wife“ ein, z. B. im Klischeebild des im Pub herumhängenden Mannes, der über seine Frau redet.

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  3. Viss Shimley

    Sehr interessante Beobachtungen! Schon mal überlegt, ob das Ganze auch etwas mit generischer Referenz zu tun haben könnte? Es gibt ja Fälle, wo ein Nomen mit definitem Artikel nicht auf ein bestimmtes Individuum verweist, sondern auf eine Gattung, wie in „Die Waldhüpfmaus ist in Nordamerika beheimatet“. So etwas findet man auch bei Verwandschaftstermini, zum Beispiel, wenn eine als typisch empfundene Situation geschildert werden soll: „Der Vater bekommt wieder jede Menge Krawatten zu Weihnachten und die Mutter selbstgemalte Bilder“. Ich meine das auch schon mal in der Werbung gesehen zu haben, so in der Art: „Geschenk für die Freundin gesucht?“. Möglicherweise steht diese Konstruktion für die von dir oben beschriebenen Pate, indem die Sprecher sich somit als Teil eines generischen, typischen Rollengefüges präsentieren – bei „die Frau ist einverstanden“ schwingt eventuell (ohne Kontext schwer zu sagen, aber es fühlt sich für mich so an) so etwas mit wie ’naja, wie das eben so ist in einer Partnerschaft, man muss sich über Dinge einig werden‘. Nur so ein Gedanke

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  4. Fritz Iv

    Das Spannende an der Beobachtung ist nicht so sehr ein verdecktet Wandel in den gewöhnlichen Phrasen – die sind ja uferlos, sondern die „Psychographie“, also die Tatsache, dass sich hier ein psychisches Ausdrucksbedürfnis in die Sprache einschleicht. Schließlich geht es um Familienmitglieder bzw. engste persönliche Beziehungen.
    Was Gerhard Großmann und Viss Shimley geschrieben haben, kam mir auch in den Sinn – das Verbergen der Beziehung hinter der Allgemeinform. Schwer zu sagen, was das ausschlaggebende Motiv ist. Mir scheint es so, als würde die Sprache damit aus dem „Beziehung anzeigenden“ Ausdruck in die Rollenzuschreibung wechseln, die dann quasi – wie bei Vater und Mutter – naturgegeben ist.
    Angenommen, „meine Frau“ stellt irgendetwas um in der Wohnung, z.B. „meinen Schreibtisch“. Nun fragt mich jemand: „Wieso steht der Schreibtisch jetzt da?“. Dann macht es einen großen Unterschied, ob ich sage, „meine Frau will das so“ oder „die Frau will das so“. Im ersten Fall muss ich mich nicht damit abfinden, falls es mir nicht passen sollte, im zweiten ist die Frau als Rolle im Haushalt eine Instanz, die mit meiner Rolle in keiner Beziehung steht und die Entscheidungen fällt, die einfach zu akzeptieren sind.
    Der psychische Hintergrund besteht möglicherweise aus zwei Aspekten: Der eine ist, dass die Musterfamilie ja gar nicht mehr das vorherrschende Muster ist, oft ist „der Mann“ ja tatsächlich nicht mehr „mein Mann“, sondern jemand, der die Rolle des Mannes eingenommen hat – es ergibt sich psychisch eine Art Zwischenzustand zwischen tief verbunden und unverbunden. Da auch Freundschaften nicht unbedingt auf Dauer angelegt sind, kann auch „mein Freund“ zur Rolles des Freunds schrumpfen.
    Der andere Aspekt ist der, dass viele Menschen tatsächlich sehr darauf bedacht sind, ihre „Autonomie“ hervortreten zu lassen, die zwischenmenschlichen Verhältnisse also tatsächlich distanzierter oder planmäßig vorübergehender vorgestellt werden. Die klassischen „Besitzverhältnisse“ in den menschlichen Beziehungen mag man gar nicht mehr denken, etwas sträubt sich etwas dagegen.
    Eventuell interessant zu untersuchen, wie das korrespondiert mit den Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. (Mir kam vor einigen Monaten der Entwurf für ein Kinderlied auf den Tisch, das mit den vielen Formen der heutigen Familienverhältnisse zu tun hatte. Sehr auffällig war, dass das Lied dem Bedürfnis der Eltern entsprungen zu sein schien, ihr Beziehungschaos den Kindern schmackhaft zu machen. In dem Lied erschienen grammatisch auf einmal die Kinder als die autonomen Personen. Wenn sich diese Geschichte mit dem bestimmten Artikel auch bei „das Kind“, „der Sohn“, „die Tochter“ zeigt, dann wäre das ein klarer Hinweis auf die entsprechenden soziopsychologischen Hintergründe.

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